Der Olpbächer-Liveticker und der Traum von der Normalität der Dinge


Als Erststipendiat der CASA hatte ich heuer erstmals die Möglichkeit, am Europäischen Forum Alpbach teilzunehmen und mit Experten aus Wirtschaft, Politik und Kultur über aktuelle Themen zu debattieren und meinen Ansichten und Meinungen Gehör zu verschaffen. Doch als Jungakademiker erfuhr ich im “schönsten Dorf Österreichs“ schnell, dass eine bestimmte Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit, zwischen Vorgetragenem und Erwartetem herrscht. Denn die Realität in Alpbach ist eine Kultur der Moderne, eine Kultur, als deren Träger bis dato die Generationen X, Y oder Z definiert worden sind, also wir. In diesem Kontext erlaube ich mir, Ihnen, liebe Leser, den Begriff der Wischiwaschi-Kultur vorzustellen. Ein Begriff, den ich nicht erfunden habe, welcher aber im alltäglichen Sprachgebrauch zur gegenwärtigen Jugendkultur zu finden ist und auch in Alpbach seine berechtigte Verwendung hat. Ich bin mir des anfänglichen, bitteren Beigeschmackes dieses Begriffes durchaus bewusst, doch glaube ich, dass diese kritische Haltung ganz im Sinne des spirits von Alpbach ist. Die diesjährigen Technologie-, Politik-, Wirtschafts- und Finanzmarktsymposien waren geprägt von einem umhüllenden Tuch von Ungewissheit und Unsicherheit. Sie fragen sich, ob wir bei der Suche nach der Weggabelung des Europäischen Scheideweges erfolgreich waren? Die Antwort lautet: Jein.

Ein ganzer Kontinent fragt sich also nach seiner Identität, seiner narrativen Entwicklung und wie er sich in Anbetracht der gegenwärtigen Krisen, in und außerhalb von Europa, positionieren soll. Und während Begriffe wie Wertvorstellungen, Flexibilität, Mobilität, Diversität, Mut oder schlicht Risikobereitschaft, in der Form des Damoklesschwertes über den Köpfen der teilnehmenden StipendiatInnen schwebt, frage ich mich, ob ich überhaupt Antworten bekommen möchte. Oder doch lieber nicht?

Auf der Suche nach der Normalität der Dinge stößt man in Alpbach also auf eben jenen Motor, welcher eine konstruktive Systemkritik erst am Laufen hält: „Ja, aber!“ Und genau hier muss das Unkraut unserer Eltern-Generation an den Wurzeln gepackt und ausgerissen werden. Denn die Skepsis gegenüber dem Wissen kommt aus der Wissenschaftstheorie und somit der Wissenschaft selbst. Während die Jugend Europas also aufgefordert wird, mehr Initiative zu ergreifen und der eigenen Verantwortung als EuropäerInnen mutig und risikofreudig in die Augen zu schaugen, kommen für mich wieder neue Fragen auf. Sind wir, die Zukunft Europas, eigentlich die Antwort auf die offenen Fragen der gerade im olpbächer Kongresssaal referierenden Eltern-Generation? Ist es nicht unsere Generation, welche mit verbundenen Augen zu ebendiesem Scheideweg entführt wurde und jetzt mit vorgehaltener Pistole, aber doch höflich, gebeten wird, „man möge sich doch für die richtige Weggabelung entscheiden – aber dalli“. Who knows?

Und während meine Gedanken sich um weitere Fragen und Inputs kreisen, versuche ich, diese unzähligen, überwältigenden Eindrücke des diesjährigen Europäischen Forum Alpbachs zu verarbeiten und entscheide mich am Scheideweg betreffend der Form meines Berichtes für die wohl unkonventionellste und einfachste Online-Berichterstattung, dem Live-Ticker. Im Sinne der Wischiwaschi-Kultur also: mein ganz persönlicher Olpbächer-Liveticker.

00:08 Uhr: Herzlich Willkommen liebe Leser. Es ist Mittwoch, der 27. August 2014 und es ist Alpbach-Time. Nach der heutigen Eröffnung der Wirtschaftsgespräche bin ich immer noch ganz durcheinander – nicht von den Vortragenden, sondern den gratis Bio-Energydrinks am Eingang. Bbbbrrrrrrr… da hört sich das klassische Konzert im Kongresssaal auch gleich besser an. Ist das Franz Fischler der sich in der ersten Reihe zwischen zwei blonde StipendiatInnen einhängt und mitschwingt? Wenn das Helene Fischer wüsst…

00:23 Uhr: Gerade den jungen olpbächer Schriftsteller Robert Prosser getroffen und bereit flexibel und (un)mobil ins Jakober Gasthaus zu starten. War das da eben ein Wohnmobil? Vielleicht unsere Freunde vom Club Alpbach Trient Trento? Ich liebe Klischees.

00:47 Uhr: Während ich mit Robert über lyrisches Prosa rede (wohl eher zuhöre) sehe ich den Ökonomen Tomas Sedlacek an der Theke. Scheint als holen die Referenten hier in Alpbach ihr Eramsus-Auslandssemster nach – na dann WMCA!

02:13 Uhr: Wir sind mittlerweile im Hallenbad gelandet – Club Senza-Confini feiert eine Party. Und Matthias Strolz fegt wieder über die Tanzfläche, als wäre es seine Bachelorfeier. Glaube der hat noch nicht mitbekommen, dass in Wien gerade das Kabinett umgebildet wird. Die NEOS-Mädels scheinen recht froh darüber. And who cares?

03:43 Uhr: Gute Nacht Alpbach, du Dorf der Denker, Netzwerker, Anzugträger und Schürzenjäger. Der heutige Abend ist abermals in nervenaufreibenden und durstlöschenden Debatten ausgeartet. Wer war nochmal dieser Thomas Bernhard? Muss morgen mal bei meinen gesammelten Visitenkarten nachschauen.

08:45 Uhr: Margit weckt mich. Die Besitzerin vom Haus Barbara klopft wie jeden Tag um viertel vor zehn an unseren Zimmertüren und fragt ob wir frühstücken möchten. Heute kommt sie sogar mit dem Wäschekorb und meinen gebügelten Unterhosen ins Zimmer. Meiner Chronistenpflicht bin ich damit nachgekommen. Kann ja nur besser werden.

09:06 Uhr: Dusche, Kaffee, Semmel, Standbauke von Margit, sie hätte mich seit zwei Tagen nicht gesehen, Auto, Mittelschule, Breakout Session, Wirtschaftsgespräche, großartiger Tag, #IloveBrankoMilanovic, aufgeregt.

09.16 Uhr: Arbeitsgruppe zum Thema „Neue Wirtschaftsmodelle für Europa“. Der ehemalige italienische Arbeitsminister Giovannini sagt wir sollen unsere Augen schließen und uns fünf Dinge vorstellen, welche wir unseren engsten Menschen für die Zukunft wünschen möchten. Giovanni-wer?

13:30 Uhr: Mittagspause. Endlich. Drängen uns heute vor wie Pensionisten an den Ständen am Obstmarkt in Bozen. Haben schließlich ja auch keine Zeit zu verlieren.

14:30 Uhr: Trommelwirbel… da tritt er ein: Branko Milanovic. Ökonom und Statistiker, der Weltstar unter jenen, die sich mit Einkommensverteilung beschäftigen. Ein Gini-Fundamentalist, der an der NYU lehrt. Danke CASA, dankeeee!!! Bräucht jetzt ein Taschentuch.

16:57 Uhr: Meine große Stunde, mein Auftritt, mein persönliches Wunder von Cordoba. Hand hochgehalten, Branko anvisiert, Frage formuliert, Antwort bekommen. Ich denke schon an den Titel meines Buches: „My 30 Seconds with Branko“.

17:24 Uhr: Es spricht sich rum, dass nach der Breakoutsession ein Shuttlebus zur Bischoferalm fährt. Offizieller Empfang der REWE Group – gratis Essen und Trinken also. Naja, wenns unbedingt sein muss…

17:25 Uhr: Sitzen in Davids Privatauto und verfolgen die Shuttlebusse hoch zur Bischoferalm. Fühl mich wie ein Greenpeace-Reporter, der versucht, Putin beim Bärenjagen zu fotografieren.

18:40 Uhr: Waren wiedermal die einzigen Gäste in Jeans und Strickpulli. Geschmeckt hats trotzdem. Jetzt am Weg zum nächsten Konzert im Kongresshaus. Keep on rocking!

22:10 Uhr: Sind im 4s Böglerhof gelandet. Offizieller Empfang von T-Mobile Österreich. Herr Dr. Anzengruber (CEO Verbund) fragt mich nach einer Zigarette. Ein NEIN liegt mir auf der Zunge. Oder JEIN? Antworte mit JA.

02:15 Uhr: Und ein weiteres Highlight in meinem bisherigen, jungen Leben: Kilian Kleinschmidt, UN Beauftragter, stellt sich zu uns und beginnt ein Gespräch. Der Typ baut einfach Flüchtlingsstädte für 250.000 Menschen in Syrien. Die Normalität der Dinge rückt wieder in weite Ferne.

04:17 Uhr: Sind immer noch gefesselt von Kilian. Alles Andere, als den Nachhauseweg anzutreten, wäre nach diesem Gespräch eine Schande. Gute Nacht ist hier fehl am Platz.

09:56 Uhr: Franz Tschimben weckt mich voller Freude: die Sonne scheint!! Erstmals haben wir schönes Wetter in Alpbach. Wir starten gleich in Richtung Bergbahn. Die Gedanken und Erinnerungen der letzten Tage mit im Gepäck. Warum nicht einfach einen Tag am Berg verbringen? Die Generation Vielleicht ist in diesem Moment weit entfernt. Bis heute Abend im Kongresszentrum jedenfalls… und anschließend im Jakober? Why not!

von Benjamin Monsorno